* 6 *

Unten am Nordtor spielte Silas Heap mit Gringe, dem Torwächter, gerade eine Partie Burgenschach. Silas und Gringe hatten unlängst ihre jahrelange Fehde beigelegt. Als Simon, Silas Heaps ältester Sohn, versucht hatte, mit Gringes einziger Tochter Lucy durchzubrennen, um sie zu heiraten, waren beide Väter gleichermaßen empört gewesen. Gringe hatte Lucy sogar in der Mansarde oben im Torhaus eingesperrt, damit sie kein zweites Mal davonlaufen konnte. Er hatte sie erst wieder herausgelassen, als Silas einige Zeit später mit der Nachricht zu ihm kam, dass Simon mitten in der Nacht in die Marram-Marschen gepaddelt und seitdem spurlos verschwunden sei. Gringe wusste nämlich wie jeder andere, dass die Chancen, nachts in den Marschen zu überleben, äußerst gering waren.
Silas und Gringe hatten entdeckt, dass sie zwei Dinge gemeinsam hatten. Erstens die Sache mit Lucy und Simon – und dann ihre Leidenschaft für Burgenschach. Beide erinnerten sich gern, wie sie als Kinder Burgenschach gespielt hatten. Heute war das Spiel sehr selten geworden, aber früher hatte es sich in der Burg allergrößter Beliebtheit erfreut. Das Endspiel der Burgenschach-Meisterschaften war immer der Höhepunkt des Jahres gewesen.
Auf den ersten Blick war es ein einfaches Brettspiel, das mit Figuren gespielt wurde. Das Brett bestand aus zwei Burgen, die durch einen Fluss in der Mitte getrennt waren. Jeder Spieler bekam eine bestimmte Anzahl von Figuren unterschiedlicher Größe und Gestalt und musste versuchen, möglichst viele von ihnen über den Fluss und in die Burg des Gegners zu bringen. Doch der eigentliche Clou bei dem Spiel war: Die Figuren hatten ihren eigenen Kopf und, was noch wichtiger war, Füße, mit denen sie selbständig laufen konnten.
Dies war der Grund, warum das Spiel so beliebt, aber leider auch so selten geworden war. Die Charms, mit denen man den Figuren Leben eingehaucht hatte, waren bei der großen Feuersbrunst vor dreihundert Jahren verloren gegangen. Seit damals waren die meisten Burgenschachspiele unvollständig. Viele Figuren waren im Lauf der Jahre in die Welt hinausgezogen, um das Abenteuer zu suchen, oder hatten sich einfach nur nach einer interessanteren Burgenschachkiste umgetan. Niemand beschwerte sich, wenn er beim Öffnen seiner Kiste entdeckte, dass ein ganz neues Figurenvölkchen bei ihm eingezogen war. Groß hingegen war der Jammer, wenn ein Besitzer feststellte, dass ihm alle Figuren davongelaufen waren, weil sie sich bei ihm gelangweilt hatten. Wie auch immer, jedenfalls waren dreihundert Jahre später die meisten Figuren verschwunden: Manche waren versehentlich Abflüsse hinuntergespült oder zertreten worden, andere lebten vergnügt in kleinen unentdeckten Figurenkolonien unter den Fußbodendielen.
Silas spielte, wie die meisten Zauberer, die magische Version von Burgenschach. Bei dieser Version waren die Burgen und der Fluss auf dem Brett echt, nur eben viel kleiner. Gringe hatte schon als Junge immer davon geträumt, mit einem magischen Brett zu spielen, und als Silas ihm gegenüber einmal erwähnte, dass er irgendwo auf dem Speicher zwischen all seinen Büchern ein vollständiges und fest verschlossenes magisches Brett habe, überwand Gringe wie durch ein Wunder seine langjährige Abneigung gegenüber der Familie Heap und schlug vor, bei Gelegenheit doch ein oder zwei Partien miteinander zu spielen. Bald war daraus eine feste Einrichtung geworden, und die beiden freuten sich auf jedes Treffen.
Heute hatte Silas in aller Frühe den Palast verlassen und, seine wertvolle Burgenschachkiste unterm Arm, die Abkürzung zum Nordtor genommen. Er war langsam gegangen, denn neben ihm trabte mit knirschenden Gelenken ein großer struppiger Wolfshund. Maxie war nicht mehr der Jüngste, aber er begleitete seinen Herrn immer noch überall hin. Als Gewöhnlicher Zauberer trug Silas Heap ein tiefblaues Gewand und einen silbernen Gürtel. Wie alle Heaps hatte er blondgelocktes Haar, das freilich schon leicht ergraute. Aber seine grünen Augen leuchteten noch. Als er am frühen Morgen durch die sonnigen Straßen schlenderte, summte er eine fröhliche Melodie, denn im Gegensatz zu Sarah Heap grämte er sich nie sehr lange und glaubte fest daran, dass sich am Ende stets alles zum Guten wendete.
Silas und Gringe hatten sich vor dem Torhaus gemütlich hingesetzt und das Burgenschachbrett aufgebaut, und jetzt musterten sie mit Kennerblick ihre Figuren, um herauszufinden, wie sie heute aufgelegt waren. Die Figuren waren launisch, und man wusste nie, wie sich ihre Stimmung von Partie zu Partie veränderte. Manche ließen sich leicht dazu bewegen, das zu tun, was der Spieler von ihnen wollte, andere nicht. Manche taten so, als befolgten sie seine Anweisung, und hintergingen ihn dann im letzten Moment. Manche schliefen ausgerechnet dann ein, wenn er sie für einen wichtigen Zug brauchte, andere wuselten wie von Sinnen übers Brett und stifteten heillose Verwirrung. Der Trick bestand darin, die eigenen Figuren und die des Gegners möglichst schnell zu durchschauen und dieses Wissen dazu zu nutzen, über den Fluss zu setzen und in die gegnerische Burg einzudringen. Jede Partie war anders. Manche waren chaotisch, andere hart umkämpft und die besten zum Brüllen komisch. Nicht von ungefähr war das Erste, was Septimus hörte, als er sich am Nordtor wieder materialisierte, Gringes schallendes Gelächter.
»Haha, Silas, damit haben Sie wohl nicht gerechnet, dass er ausbüxt, was? Der ist richtig, der kleine Dicke. Hab ich mir halb gedacht, dass er so was tun würde. Ich schätze, das bringt meine Reserve wieder ins Spiel.« Gringe, ein stämmiger, etwas streitlustiger Mann im Lederwams, beugte sich vor und zog eine dicke runde Figur aus einer Schublade an der Kopfseite des Bretts. Die Figur strampelte aufgeregt mit ihren kurzen, dicken Beinen und rannte aufs Feld.
»He«, rief Gringe bestürzt, als die Figur geradewegs in den Fluss hüpfte und in den Fluten versank, »du sollst doch nicht ins Wasser, du kleiner blöd... Nanu, ist das nicht Ihr Sprössling, Silas? Wo kommt der denn so plötzlich her? Also wirklich, ihr Heaps seid doch überall.«
»Darauf falle ich nicht herein, Gringe«, kicherte Silas, der gerade damit beschäftigt war, eine seiner Figuren, nämlich den Tunnelbauer, dazu zu bringen, sich in den unterirdischen Gang zu zwängen, der unter die gegnerische Burg führte. »Ich weiß, was Sie damit bezwecken, Gringe. Sobald ich wegsehe, befördert Ihr Kicker meinen Tunnelbauer mit einem Tritt in den Fluss. Ich bin nicht von gestern, mein Lieber.«
»Aber es ist Ihr Sohn, Silas, der Lehrling. Sieht so aus, als wäre er gerade am Zaubern.«
Es dauerte einige Zeit, bis der Transportzauber seine Wirkung verlor. Septimus sah noch immer etwas verschwommen aus. Maxie, der unter dem Tisch lag, winselte und sträubte das Nackenfell.
»Sehr witzig, Gringe«, sagte Silas, der ohne großen Erfolg versuchte, seinen Schieber dazu zu bewegen, den Tunnelbauer unter die Burg zu bugsieren.
»Nicht doch, er ist wirklich da. Guten Tag, mein Junge. Kommst du deinen Dad besuchen?«
Endlich konnte sich Silas vom Spiel losreißen und schaute auf.
»Oh, hallo, Septimus«, rief er überrascht. »Sieh mal an, du übst schon das Teleportieren? Ist ein ganz Patenter, mein Jüngster«, sagte er zu Gringe, und nicht zum ersten Mal. »Er ist Lehrling bei der Außergewöhnlichen Zauberin!«
»Ach, tatsächlich? Was Sie nicht sagen!«, grummelte Gringe und tauchte den Arm bis zum Ellbogen ins Wasser, um seine Figur aus dem Fluss zu fischen. Nur hatte er vergessen, dass Silas eine Luxusausgabe des Spieles besaß, die mit Minikrokodilen ausgestattet war.
»Autsch!«, heulte Gringe.
»Dad, Dad!«, rief Septimus. »Es geht um Jenna! Simon hat sie mitgenommen. Sie kommen gleich hier vorbei. Gringe soll die Zugbrücke hochziehen. Schnell!«
»Was?«
Silas sah, dass Septimus die Lippen bewegte, konnte aber nicht hören, was er sagte. Septimus war noch immer nicht ganz da.
»Ihr sollt die Zugbrücke hochziehen, Dad!« Erst beim letzten Wort erlangte Septimus seine Stimme wieder.
»Ja, was gibt’s, mein Sohn? Wieso schreist du denn so?«
Hinter ihnen ertönte Hufgetrappel, und da wusste Septimus, dass es zu spät war. In einem letzten verzweifelten Versuch, Pferd und Reiter aufzuhalten, sprang er mitten auf den Weg, doch Silas packte ihn und riss ihn zurück.
»Vorsicht! Sonst wirst du niedergetrampelt.«
Simons Pferd preschte vorbei. Jenna rief ihnen etwas zu, doch das Trommeln der Hufe und das Rauschen des Luftzugs, den der mächtige Rappe verursachte, verschluckten ihre Worte.
Septimus, Silas und Gringe sahen ihm nach, wie er mit seinen zwei Reitern über die Zugbrücke donnerte. Drüben, auf dem Feldweg angekommen, bog er scharf rechts ab, wobei er auf der trockenen Erde in der Kurve leicht wegrutschte, und galoppierte in Richtung Nordstraße davon. Wie Septimus aus seinen Kartenstudien bei der Jungarmee wusste, führte die Nordstraße am Fluss entlang zur Einwegbrücke und von dort weiter in Richtung Grenzland oder Ödlande, wie diese Gegend in der Burg oft genannt wurde. Wenn man zügig ritt, konnte man an einem Tag dort sein.
»Unerhört!«, rief Silas aus und schaute dem Pferd nach. »Ein solcher Fall von grob fahrlässigem Reiten ist mir noch nie untergekommen. Und nur um vor seiner Freundin anzugeben! Wenn ihr mich fragt, sollte man jungen Männern schnelle Pferde verbieten. Die kennen nur eins, Tempo, Tempo, Tempo, ohne Rücksicht auf die anderen ...«
»Dad!«, schrie Septimus verzweifelt, um endlich zu Wort zu kommen. »Das war Simon!«
»Simon?« Silas blickte verwirrt. »Was für ein Simon? Unser Simon?«
»Ja, Simon, und er hat Jenna mitgenommen!«
»Mitgenommen? Wohin denn? Und wozu? Was geht hier vor? Warum sagt mir denn nie jemand, was los ist?« Silas sank auf seinen Stuhl. Der Tag nahm eine unerfreuliche Wendung, und er wusste nicht genau, warum.
»Ich versuche es dir ja schon die ganze Zeit zu sagen«, rief Septimus gereizt. »Das eben war Simon, und er hat...« Er wurde abermals unterbrochen. In der Tür des Torhauses war Lucy Gringe erschienen, ein hübsches Mädchen mit dunkelbraunen Augen und hellbraunem Haar, das ihr, zu zwei Zöpfen geflochten, bis zur Taille herabhing. Sie trug ein einfaches langes weißes Sommerkleid, das sie selbst mit einer seltsamen Auswahl an Blumen bestickt hatte, und schwere braune Stiefel, die mit rosa Bändern geschnürt waren. Lucy war für ihre eigenwillige Art sich zu kleiden bekannt.
»Simon?«, fragte Lucy, ganz blass unter ihren Sommersprossen. »Hast du gesagt, das sei Simon gewesen?«
»Lucy, ich dulde nicht, dass du diesen Namen in den Mund nimmst«, knurrte Gringe, starrte auf das Spielbrett und fragte sich, wie aus einem schönen Morgen plötzlich ein solcher Alptraum werden konnte. Aber ich hätte es wissen müssen, dachte er zerknirscht. War das mit den Heaps nicht immer so? Mit denen gab es nichts als Ärger.
»Ja, das war Simon«, antwortete Septimus tonlos. Die Dringlichkeit war aus seiner Stimme gewichen, denn mittlerweile war es zu spät, um etwas zu unternehmen. »Er hat Jenna mitgenommen.«
»Aber«, stammelte Silas, »ich verstehe nicht...«
Lucy Gringe verstand. Sie verstand nur zu gut.
»Warum?«, schrie sie. »Warum hat er mich nicht mitgenommen?«